Textatelier
BLOG vom: 26.04.2006

Ungarn nach den Parlamentswahlen: Ein Duft nach Edelfäule

Autor: Walter Hess

Ich bin kein Ungarn-Kenner, aber ein Ungarn-Freund. Während einer publizistischen Heilbäder-Tour, die ich 1987 absolvierte, ist mir dieses weite Land mit seinen Ziehbrunnen, ein Meer ohne Oberflächenwasser, und seiner urtümlichen Bevölkerung ans Herz gewachsen. Allerdings geht dort nicht alles auf: Der wunderbaren Heilbäder zum Trotze soll in Ungarn selbst das Gesundheitswesen, dem ich Krankheitswesen zu sagen pflege, schwer erkrankt sein. Die Ärzte gehören zu den Schlechtverdienern im Lande und suchen sich mit Schmiergeldern über dem Heilwasser zu halten.

Der Weg zur Marktwirtschaft und zur Globalisierung ist überall mit schmerzlichen Reformen im Sozialbereich, was Leistungsabbau bedeute, gepflastert, wie sich auch am Beispiel Ungarn einmal mehr zeigt. Die Armen werden ärmer und unzufriedener und die Reichen reicher und sogar Ministerpräsident (Premier). Das beweist, dass das viel versprechende neoliberale System nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern eher ein Trugschluss ist. Da aber die Zusammenhänge zwischen System und Folgeerscheinungen geschickt verwedelt und auseinander dividiert werden, merken das die Leute erst, wenn es schon zu spät ist. Auch in Ungarn.
 
Ungarn! Ich bin zu selten dort. Deshalb gehört insbesondere die ungarische Küche zu meinen Herzensangelegenheiten. Ich kann sie daheim haben. Das Gulasch (Gulyás), wie ich als Saucen-Liebhaber es aus gut durchzogenem, etwas hautigem Rindfleisch auf der Gasflamme mit viel Rotwein, Schweineschmalz, Zwiebeln und scharfen Gewürzen unter Paprika-Anführung selber zubereite, ist ein gastronomischer Höhepunkt, der allen Geniessern Tränen der Begeisterung in die Augen treibt. Das rote Stierenblut (Bikavér-Wein) ist eine ebenfalls kräftigende Unterstützung. Eine Wucht.
 
Und wenn dann im Lande der Magyaren Wahlen sind, hoffe ich jeweils insgeheim und blauäugig aus der Ferne, dass dieses romantische, moderat postkommunistische Ungarn seine Eigenarten behalten möge. Aber der Traum ist längst ausgeträumt. Ungarn hat sich bereits – als grösstes Land übrigens – unter die EU-Neumitglieder gereiht und Sehnsucht nach dem Euro, möchte unbedingt von der Forint- zur Euro-Zone werden.
 
Auf den ersten Blick war es beruhigend, dass die sozialliberale Regierung unter dem Multimillionär Ferenc Gyurcsány (44), der 2004 Péter Medygessy abgelöst hatte, wiedergewählt worden ist, eine Wiederwahl, wie sie sonst in jener Gegend nicht vorkommt. Nach jeweils 4 Jahren Neoliberalismus wird jeweils die Lust auf Veränderung übermächtig. Der ehemalige Kommunist Gyurcsány machte sein Vermögen im Rahmen der Privatisierungen (Aluminium, Gummi, Immobilien) und ist dementsprechend ein glühender Globalisierer – der Staat aber verarmte. Ein Anklang ans Berlusconi-Italien, wenn auch etwas modifiziert. Mindestens die Hälfte des ungarischen Volks lebt heute armseliger als zu den Zeiten des Kommunismus.
 
Die nationalkonservativ ausgerichtete Opposition (FIDESZ, Ungarischer Bürgerverband) unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, die mit guten Gründen von einem „Ausverkauf des Landes an Ausländer“ sprach, ist unter sich zerstritten und servierte sich gleich selber ab. Deshalb kam es diesmal nicht zu einer Veränderung – und Ungarn globalisiert infolgedessen unverdrossen weiter.
 
Die sozialliberale Ausrichtung tönt nach Globalisierung, nach Vereinheitlichung, Vermassung. Und so ist es auch. Der erfolgreiche Geschäftsmann Gyurcscány will 2010 den Euro einführen und das Budgetdefizit von 6,1 (2005) auf 3 Prozent kürzen, wohl ohne selber zu wissen, wie das geht. Da steht ein riesiger Schuldenberg in der ungarischen Tiefebene. Wenn Gyurcsány die Steuern für das Volk erhöht, ist dieses unzufrieden und die Wirtschaft leidet, und erhöht er die Steuern für die Gutbetuchten, wandert deren Geld ins Ausland ab – auch das ist Globalisierung. Die Maastrichter Stabilitätskriterien sind ein Meilenstein auf diesem Wege. Es bleibt noch eine Einschrumpfung des aufgeblähten Staatsapparats, ein Überrest aus der kommunistischen Zeit. Aber der steht den Sozialisten oder Sozialdemokraten (die neuen Wörter für Kommunisten in Ungarn) nahe, und dafür hätte Orbán die besseren Voraussetzungen mitgebracht. Er scheiterte vielleicht an seinem übersteigerten Machtanspruch.
 
Zum Dessert ist nach alldem ein Glas Tokajer fällig. Er lehrt, was Reife bedeuten und bewirken kann. In Ungarn hat der Reifeprozess erst begonnen. Hoffentlich erweist er sich nicht als edelfaul wie die Trauben, aus denen der Tokajer, ein süsses Gedicht, gekeltert wird.
 
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